Ausgerechnet im Namen Jesus wurde auf dieser Welt mehr gemordet, gefoltert und unterdrückt, als in irgend einen anderen Namen. Das ist nicht Jesus anzulasten sondern Menschen, die glaubten, dass das Bekenntnis zum Christentum ausreicht, sich über das eigene Handeln und seine Folgen kein Gewissen zu machen. So gesehen birgt dieses Dogma eine große Gefahr. Sehen wir aber Sünde als einen notwendigen Wachstumsprozess der Seele an, der eine unreife Seele (wir alle haben sie gewissermaßen) ausmacht, so ist Sünde nicht mehr schlecht, denn es ist eine Vorstufe zur Reife. Würden aber alle Sünden vergeben, so würden wir nicht mehr das ernten, was wir säten. Ein seelischer Wachstumsprozess wäre dann kaum noch möglich.
Danke für dieses Statement. Sicherlich, Sünde ist je nach Definition schlecht oder nicht schlecht, es kommt eben darauf an, mit welcher man Brille man darauf schaut. Wenn Sie mich nun als Christ fragen, ob Sünde gut oder schlecht ist, würde ich Ihnen eine Antwort geben, die in Anlehnung an das Buch des berühmten christlichen Philosophen Sören Kierkegaard „Die Krankheit zum Tode“ wie folgt lautet:
Sünde ist: Vor Gott verzweifelt nicht man selbst sein wollen. Glaube ist: Dass das Selbst, indem es ist und es selbst sein will, durchsichtig sich gründet in Gott
Sünde ist aus christlicher Perspektive folglich das verzweifelte Sich-Weigern, meine tiefste Identität in meiner Beziehung zu Gott zu finden: Sünde heißt. Ich versuche, ohne Gott mein Ich, meine Idenität zu finden. Was bedeutet das aber?
Jeder Mensch bezieht seine Identität, das Gefühl, eine eigene Persönlichkeit zu sein und einen Wert zu haben, von jemanden oder aus etwas. Kierkegaard sagt, dass die Menschen nicht nur dazu erschaffen sind, allgemein an die Existenz Gottes zu glauben, sondern auch ihn über alles zu lieben, ihr Leben ganz in ihm auszurichten und ihre gesamte Identität ihn ihm zu gründen. Alles andere Sünde. Dass nach Aussage der Bibel jeder Mensch ein „Sünder“ ist, meint also keine pauschale moralische Abwertung, sondern die Störung der Gottesbeziehung aller Menschen, die viel tiefer liegt. Diese Unterscheidung ist wichtig.
Die meisten Menschen verstehen Sünde v.a. als eine Art Verstoß gegen die Gesetze Gotes, aber Kiergaard weiß, wie das erste Gebot lautet: „Du sollst neben mir keine anderen Götter haben.“ Nach der der Bibel ist Sünde nicht zu allererst, dass wir Dinge tun, die an sich böse sind. Sondern dass wir an sich gute Dinge zu höchsten Dingen erheben. Der Sünder versucht, seine Identität, sein Selbstwertgefühl dadurch zu finden, dass er ewas anderes als seie Gottesbeziehung zu seinem höchsten Ziel, Sinn und Glück macht.
Ernest Becker gewann den Pulitzer-Preis für sein Buch „Die Dynamik des Todes“. Er beginnt hier mit der Beobachtung, dass schon beim Kind das Bedürfnis nach Selbstachtung die große Grundbedingung seines Lebens ist. Jeder Mensch suchz verzweifelt nach „kosmischer Bedeutung“. Becker fordert nun seine Leser auf, dieses Wort nicht auf die leichte Schulter zu nehmen. Unser Bedürfnis, einen Wert zu haben, ist so stark, dass wir das, worauf wir unsere Identität und unserem Wert gründen, mehr oder weniger „vergöttern“. Wir betrachten es mit einer geradezu frommen, anbetungsvollen Leidenschaft und Intensität, selbst dann, wenn wir uns für hochgradig unreligiös halten. Becker benutzt als Beispiel die romantische Liebe:
Die von ihm [dem modernen Menschen] ersehnte Verschmelzung suchte er nun in dem Liebespartner. Er wird zum göttlichen Ideal, in dem sich unser Leben erfüllen soll. Alle geistigen und moralischen Bedürfnisse konzentrieren sich auf ein einziges Individuum.
Becker sagt aber nicht, dass alle Menschen ihren Selbstwert in Liebesbeziehungen suchen. Viele suchen die „kosmische Bedeutung“ nicht in der Liebe, sondenr in ihrer Arbeit und Karriere:
Er muss sich nämlich seinen Selbstwert durch seine Arbeit erwerben, was wiederum bedeutet, dass diese Arbeit seine Daseinsberechtigung sein muss. Er verwirklicht die Vorstellung von seiner Allmacht über Leben und Tod und Schicksal in der „Gestalt“ seines Werkes.
Jeder Mensch braucht also irgendetwas, um sein Dasein zu rechtfertifen und sich gegen die allgegenwärtige Angst zu wehren, „eine Null“ zu sein. In unserer modernen westlichen Kultur suchen wir unser Heil in unseren beruflichen Leistungen, unserem sozialen Status, unseren Talenten oder unseren Liebesbeziehungen. Es gibt tausend Dinge, die zur Basis unserer Identität werden können. Wenn wir Sünde also so definieren, wie es Christen tun, erkennen wir gleich mehrere Arten, wie sie uns persönlich zerstört, also schlecht ist.
Übrigens gebe ich Ihnen vollkommen Recht: Die Annahme, dass das Bekenntnis zum Christentum ausreicht, sich über das eigene Handeln und seine Folgen kein Gewissen zu machen, birgt in der Tat eine große Gefahr. Von daher erscheint die Notwendigkeit von Bibelkritik nur notwendig; wer die christliche Botschaft in ihrer Gesamtheit recht verstanden hat, kann sie eben mitnichten zum Morden und Unterdrücken instrumentalisieren bzw. missbrauchen.
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