In der Frage nach der Existenz von freiem Willen stellt sich zwangsläufig auch die Frage, wann der Mensch seinen freien Willen erhält. In der Form einer befruchteten Eizelle unterscheidet er sich nicht von niederen Lebensformen und verfügt daher über keinen freien Willen. Solange es sich als Fötus im Mutterleib befindet, hat das Kind zumindest keine Möglichkeit irgend eine freie Entscheidung zu treffen. Wenn das Kind zur Welt gekommen ist, aus Hunger schreit, instinktiv an der Mutterbrust nuckelt, tut es das ebenfalls nicht aus freiem Willen. Wenn die Windel feucht ist, schreit das Kind ebenfalls nicht, weil es gerade schreien möchte. Und später? Gibt es jemals ein Zeitpunkt, wo wir sagen können, es kommt echter freier Wille zum Tragen? Werden die Bahnen unseres Lebens nicht in der Kindheit festgelegt? Wir können nicht einfach tun und lassen, was wir wollen. Niemand steht auf, beschimpft seinen Chef, nur weil er gerade mal seinen freien Willen ausleben möchte. Die äusseren Zwänge sind immer sehr stark und lassen nur wenig Spielraum. Freier Wille kann auch eine Täuschung sein.
Danke für diesen Beitrag. Natürlich ist es so, dass es Dinge in unserem Leben gibt, wo unser freie Wille aufgrund äußerer Umstände eingeschränkt ist. Das bestreitet ja auch niemand. Ihren Chef werden Sie sicherlich niemals nach allen Regeln der Kunst zusammenfalten, genausowenig wie den Polizisten, der Sie zu einer Routinekontrolle an die Seite gebeten hat. Aber wir haben es im Leben ja mit weitaus mehr Entscheidungen zu tun, als in diesen Situationen der Fall.
Nehmen Sie z.B. Ihren Beitrag hier, den zu schreiben Sie sicherlich kein äußerer Umstand gezwungen hat. Nein, es war höchstwahrscheinlich Ihre freie Entscheidung. Oder denken Sie einmal die letzten Wochen durch: Können Sie sich hier ein durchweg einwandfrei moralisches Handeln attestieren? (Ich könnte es z.B. nicht.) Und nun die noch wichtigere Frage: Hat Sie ein äußerer Umstand gezwungen, z.B. zu lügen, zu lästern usw. – oder war das vielmehr Ihre freie Entscheidung?
Wie gesagt: Natürlich würde niemand seinen Vorgesetzten abkanzeln, das ist klar. Aber sind solche Dinge wie Lügen, Lästern oder dergleichen wirklich etwas, das von Außen kommt? Ich persönlich denke nein. Wer z.B. lästert, ist nicht von äußeren, sondern vielmehr inneren „Zwängen“ getrieben: Sie fühlen sich selbst danach irgendwie besser, Sie solidarisieren sich mit anderen und fördern dabei auch noch Ihre gesellschaftliche Harmonie. Solche Dinge wie Lästern sind also Ich-gesteuert, sie haben etwas mit unserem Ego zu tun.
Aber wenn es stimmt, was Christen glauben, dann gibt es nicht nur einen Gott, sondern: Dann ist dieser Gott auch vollkommen heilig und vollkommen gerecht und kann dementsprechend selbst bei solchen „Banalitäten“ wie Lügen oder Lästern kein Auge zudrücken. Würde er es tun, wäre er nun mal nicht absolut heilig und gerecht. Aus Gottes Sicht ist also bereits der schuldig, der „nur“ lügt oder „nur“ mal gelästert hat. Und wir alle wissen, dass wir es selbst in wenigen Wochen nicht bei einer Lüge, einer Lästerei, einem unreinen Gedanken usw. belassen.
Vor diesem Hintergrund stellt sich natürlich die Frage: „Warum sollte ein gerechter Gott Menschen, die sich ohne äußeren Druck frei für Sündiges entscheiden, in den Himmel lassen?“ Da besteht ehrlich gesagt kein Anlass zu. Natürlich könnte man nun einwenden: „Aber Gott ist doch auch ein liebender Gott.“ Das stimmt selbstverständlich. Aber eben nicht nur.
Wer an dieser Stelle „Gottes Dilemma“ sieht, sieht vollkommen richtig. Gottes vollkommene Liebe verlangt nach Versöhnung und Vergebung, nach Himmel. Seine absolute Gerechtigkeit verlangt die Bestrafung für sündiges Verhalten, nach Hölle. Christen sagen nun, dass Gott dieses Dilemma gelöst hat – in dem er selbst Mensch wurde, in Jesus. Am Kreuz treffen sich die Liebe und die Gerechtigkeit Gottes.
Gerechtigkeit, weil das der Ort ist, auf den Gott die Sünden der ganzen Menschheit lenkt und Jesus die Konsequenzen trägt, die wir eigentlich zu tragen hätten. Liebe, weil in Jesus nicht irgendein Unschuldiger für die Konsequenzen unseres Fehlverhaltens stirbt, sondern Gott selbst – in Jesus. Gott macht uns (in Jesus) folglich ein Angebot zur Versöhnung und Vergebung. Alles, was wir dabei zu tun haben, ist, dieses Angebot für uns in Anspruch zu nehmen.
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